Am Morgen des 1. November 1755, dem katholischen Feiertag Allerheiligen, geschah das Unfassbare. Ein verheerendes Erdbeben der geschätzten Stärke 8,5 bis 9,0 zerstörte die blühende Metropole Lissabon fast vollständig.
Was als Naturkatastrophe begann, entwickelte sich zu einem tiefgreifenden Ereignis, das nicht nur die Stadt in Schutt und Asche legte, sondern auch das gesamte Gedankengebäude der europäischen Aufklärung erschütterte.
🌊 Drei apokalyptische Phasen: Beben, Tsunami und Inferno
Die Katastrophe in Lissabon war ein Zusammenspiel dreier vernichtender Elemente:
- Das Erdbeben: Gegen 9:30 Uhr bebte die Erde etwa 300 km vor der Küste Portugals. Drei heftige Erschütterungen ließen Paläste, Kirchen und das königliche Archiv einstürzen. Besonders tragisch: Viele Gläubige, die sich zum Allerheiligen-Gottesdienst in den Kirchen versammelt hatten, wurden unter den Trümmern begraben.
- Der Tsunami: Minuten später wich das Meer zurück und kehrte als riesige, teils über 15 Meter hohe Flutwelle (Tsunami) zurück, die das Hafenviertel und die Unterstadt überrollte und Tausende Menschen in den Tod riss.
- Das Inferno: Da an Allerheiligen in den Kirchen unzählige Kerzen brannten, lösten umgestürzte Kerzenleuchter und offene Feuerstellen verheerende Brände aus. Das Feuer wütete tagelang und vollendete die Zerstörung.
Schätzungen zufolge kamen zwischen 30.000 und 100.000 Menschen ums Leben.
🤔 Die philosophische Erschütterung: Die Frage der Theodizee
Die Zerstörung Lissabons an einem höchsten Feiertag versetzte das gesamte aufgeklärte Europa in einen Schockzustand. Wie konnte ein gütiger, allmächtiger Gott ein solches Übel zulassen?
Die sogenannte Theodizee-Frage – die Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens in der Welt – wurde neu und scharf diskutiert.
- Voltaire: Der französische Philosoph sah in der Katastrophe den Beweis fĂĽr die Hohlheit der optimistischen Philosophie, dass wir in der „besten aller möglichen Welten“ lebten (Leibniz). In seinem „Poème sur le dĂ©sastre de Lisbonne“ kritisierte er diese naive Sichtweise zutiefst.
- Immanuel Kant: Der deutsche Philosoph veröffentlichte drei Abhandlungen ĂĽber das Erdbeben und versuchte als einer der Ersten, eine rein naturwissenschaftliche Erklärung fĂĽr die Ursache zu finden – eine bahnbrechende Abkehr von der theologischen Deutung als „Strafe Gottes“.
- Wende zur Wissenschaft: Das Ereignis trug maĂźgeblich dazu bei, dass die Ursachen von Naturkatastrophen zunehmend rational und wissenschaftlich erforscht wurden.
🏗️ Der Wiederaufbau unter dem Marquês de Pombal
Der Wiederaufbau der Stadt wurde zur organisatorischen Meisterleistung, eng verknüpft mit dem Namen des damaligen Premierministers, Sebastião José de Carvalho e Melo, besser bekannt als Marquês de Pombal.
Seine berühmte Anweisung lautete: „Begraben der Toten und sorgen für die Lebenden.“
Pombal handelte entschlossen und pragmatisch:
- Er setzte eine strenge Notstandsverwaltung durch.
- Er ließ die Trümmer abtragen und plante die Baixa Pombalina, das neue Stadtzentrum, auf einem revolutionären, geradlinigen Gitternetz neu.
- Er entwickelte die weltweit erste bekannte anti-seismische Bauweise („Gaiola Pombalina“ – Pombal-Käfig), eine hölzerne Skelettkonstruktion in den Mauern, die ErschĂĽtterungen besser standhalten sollte.
Lissabon wurde damit zur ersten modernen Stadt Europas, die nach einem wissenschaftlich-rationalen Plan wieder aufgebaut wurde.
Fazit
Das Erdbeben von Lissabon 1755 am 1. November war weit mehr als eine lokale Tragödie. Es war ein tiefgreifender historischer Wendepunkt, der die philosophische Debatte der Aufklärung neu entfachte und zur Geburtsstunde der modernen Seismologie und Stadtplanung wurde. Besuchen Sie heute die Ruinen des Kloster Carmo – ein eindrucksvolles Mahnmal dieser Katastrophe, das uns lehrt, dass Fortschritt und Pragmatismus oft aus den größten Krisen entstehen.
Entdecke mehr von Harris Blog – Die besten Online-Deals, Guides & Empfehlungen
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.